Die Macht der Geographie

Warum ist dieses kleine, liebenswerte Land eigentlich so arm?

Der Spiegel Bestseller von Tim Marshall hilft die großen Zusammenhänge unserer Welt zu verstehen.

Mit freundlicher Genehmigung dürfen wir den, die Republik Moldau betreffenden, Buchauszug veröffentlichen.

Warum die Republik Moldau so zwischen den Unionen hängt ist hier für jeden verständlich erklärt.

Das Glück einer Bevölkerung hängt im Wesentlichem mit seiner geografischen Lage zusammen.

Russland wird seine Interessen in den baltischen Staaten weiterhin verfolgen. Sie sind einer der Schwachpunkte, die die russische Verteidigung seit dem Zusammenbruch der UDSSR aufweist, eine weitere Bresche in der Mauer, die man gern als Bogen sähe, der sich von der Ostsee nach Süden und dann nach Südosten zum Ural spannt.

Das bringt uns zu einer anderen Lücke in der Mauer und einem anderen Gebiet, das Moskau als potenziellen Pufferstaat betrachtet. Fest im Blick des Kremls ist Moldawien.

Moldawien stellt für alle Seiten ein anderes Problem dar. Ein russischer Angriff auf das Land würde erfordern, durch die Ukraine zu ziehen, den Dnjepr zu überqueren und dann erneut die Grenze eines souveränen Staates zu überschreiten, um in Moldawien einzumarschieren. Es wäre machbar – um den Preis einer erheblichen Zahl von Menschenleben und indem man Odessa als Sammelpunkt benutzt -, aber man könnte es in keiner Weise ableugnen. Auch wenn es vielleicht keinen Krieg mit der NATO auslöste (Moldawien ist kein Mitglied), würde es doch Sanktionen gegen Moskau in bisher unbekanntem Ausmaß bewirken und bestätigen, was der Autor dieses Buches bereits als Fakt betrachtet – dass die sich abkühlenden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen schon der neue Kalte Krieg sind.

Der Wahlsieg von Donald Trump hatte einige Beobachter zu der Folgerung veranlasst, Russland könne jetzt glauben, »grünes Licht« für ein weiteres Vorgehen in der Ukraine zu haben. Doch binnen weniger Wochen nach dem Amtsantritt feuerten Trumps Verteidigungsminister und sein Außenminister verbale Warnschüsse in Richtung Moskau, die klarstellten, dass, selbst wenn das Weiße Haus eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland anstreben würde, die geopolitischen Tatsachen Grenzen setzen, die Moskau besser nicht überschreiten solle.

Warum sollten die Russen Moldawien einnehmen wollen? Weil die Karpaten einen Bogen nach Südwesten machen und zu den Transsilvanischen Alpen werden. Südöstlich davon liegt eine Ebene, die zum Schwarzen Meer führt. Diese Ebene kann auch als flacher Korridor nach Russland gesehen werden, und genau wie die Russen gern die Kontrolle über die nordeuropäische Tiefebene an ihrer schmalen Stelle in Polen hätten, möchten sie auch die Ebene am Schwarzen Meer – bekannt als Moldawien – in der Region, die früher Bessarabien hieß, kontrollieren.

Nach dem Krimkrieg (der zwischen Russland und westeuropäischen Alliierten stattfand, um die osmanische Türkei vor Russland zu schützen) erhielt Moldawien durch den Dritten Pariser Frieden 1856 Teile von Bessarabien zurück, was Russland von der Donau abschnitt. Russland brauchte fast einhundert Jahre, um wieder Zugang zu bekommen, musste sich mit dem Zusammenbruch der UDSSR aber wieder nach Osten zurückziehen.

De facto kontrollieren die Russen bereits einen Teil von Moldawien – eine Region namens Transnistrien, jenen Teil von Moldawien, der östlich des Dnister liegt und an die Ukraine grenzt. Stalin hatte in weiser Voraussicht eine große Zahl von Russen dort angesiedelt, genau wie auf der Krim, nachdem er den Großteil der Tataren hatte deportieren lassen.

Im heutigen Transnistrien sprechen mindestens 50 Prozent der Bevölkerung Russisch oder Ukrainisch, und sie sind prorussisch eingestellt. Als Moldawien 1991 unabhängig wurde, erhob sich die russischsprachige Bevölkerung und rief nach einer kurzen Periode der Kämpfe die abtrünnige Republik Transnistrien aus. Hilfreich dabei war, dass Russland hier Truppen stationiert hatte, und heute befindet sich noch eine russische Streitmacht von 2000 Mann dort.

Ein russischer Einmarsch nach Moldawien ist unwahrscheinlich, aber der Kreml kann seine ökonomischen Muskeln spielen lassen und zudem die unsichere Lage in Transnistrien nutzen, um Einfluss auf die moldawische Regierung zu nehmen, damit das Land weder der EU noch der NATO beitritt. Moldawien ist von russischen Energielieferungen abhängig, sein Getreide exportiert es nach Osten, und die russischen Importe des exzellenten moldawischen Weins steigen oder fallen je nach Stand der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

Eine Reihe von Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten, streben engere Bindungen mit Europa an. Doch bestimmte Regionen, etwa das zu Moldawien gehörende Transnistrien, sind nach wie vor stark prorussisch und bergen Zündstoff für künftige Konflikte.
Tim Marshall: Die Macht der Geographie
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Titel der englischen Originalausgabe: ›Prisoners of Geography‹ (Elliott & Thompson Ltd., London 2015), © Tim Marshall 2015

https://www.dtv.de/buch/tim-marshall-die-macht-der-geographie-34917/

Schreibe einen Kommentar

 SPENDEN